25 – Marie

Marie suchte den überfüllten Zugwaggon nach Fabi ab. Sie musste unbedingt mit ihm reden. Erst nachdem er ihr deutlich gemacht hatte, wie sehr ihre Worte ihn verletzt hatten, war ihr überhaupt klar geworden, was sie da gesagt hatte. Natürlich war er sauer. Sie hatten noch nicht darüber geredet, was passieren würde sobald sie wieder zurück am See waren, aber anscheinend hatte Fabi nicht damit gerechnet, dass eine Beziehung vollkommen undenkbar sei. Marie musste sich eingestehen, dass das auch nicht der Wahrheit entsprach. Im Moment konnte sie sich sogar nichts schöneres vorstellen, als eine Beziehung mit Fabi. Aber dann dachte sie wieder an Lewi. An seine Entschuldigung, dass er sie abholen würde. Was sollte sie ihm sagen? Und, wie konnte sie sich sicher sein, dass ihre Gefühle für Fabi echt waren? Eigentlich waren sie einfach nur gute Freunde und er war eben ein paar Mal zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen. Marie selbst hätte niemals damit gerechnet, dass die Stufenfahrt so ausgehen würde. Sie hatte auch niemals zuvor auch nur mit den Gedanken gespielt, etwas mit Fabi anzufangen. Selbstverständlich war ihr aufgefallen, dass er attraktiv war, aber sie war dennoch immer mehr oder weniger glücklich mit Lewi gewesen. Endlich fand sie Fabi. Er stand zwischen Nermin und Wolfram an die Tür gequetscht und Marie bemerkte, dass er sie ebenfalls anschaute. Als er ihren Blick bemerkte, schaute er hastig beiseite. Entschlossen bahnte sich Marie den Weg zu Fabi durch. Sie würde auf keinen Fall zulassen, dass die beiden nach dieser Woche so auseinander gehen würden. Sie mussten das jetzt ein für alle Mal klären. „Wir müssen reden“, sie zupfte an seinem Ärmel und er nickte widerwillig. Gemeinsam stolperten sie durch die viel zu überfüllten Gänge des Zuges, bis sie schließlich ganz am Ende ein leeres Abteil fanden. „Erste Klasse!“, stellte Marie bedauernd fest, aber Fabi zuckte nur mit den Schultern. „Ich hab gehört, wenn der Zug so voll ist, darf man auch in die erste Klasse. Und wenn schon, es würde sowieso kein Kontrolleur durch kommen.“. Also zogen sie die Tür des Abteils auf und setzten sich auf einen Zweier, in dem sonst vollkommen leeren Abteil. Ohne Vorwarnung zog Fabi Marie an sich und küsste sie. Ihr Herz machte einen Sprung. „Das war nicht nett, was du vorher gesagt hast.“, Fabi klang ein wenig traurig und Marie bekam ein fürchterlich schlechtes Gewissen. „Eigentlich hab ich das gar nicht so gemeint…“, versuchte sie die Situation zu retten. „Ich wollte einfach, dass Nermin, Ina und Chrissi nichts davon mit kriegen. Ich mein, kannst du dir vorstellen, was ich gerade durch mache? Das aller letzte, was ich jetzt brauche, ist, dass Lewi da irgendwie Wind von kriegt. Wenn er das erfährt, dann von mir und niemand anderem.“. Fabi schaute sie ausdruckslos an und nahm dann ihre Hand. Langsam fuhr er mit den Fingern die Konturen ihrer Hand nach, dann weiter zu ihren Arm, ihren Schultern, bis er schließlich in ihrem Gesicht ankam. „Wie geht es denn jetzt weiter?“, fragte er endlich, seine Augen ruhten auf ihrem Gesicht. Marie schüttelte nur langsam den Kopf. „Ich will nicht, dass es bei uns so wird wie mit Oli und Hannah.“, setzte er hinzu und Marie konnte ihm dabei nur Recht geben. Hannah war ein anderes Mädchen aus ihrer Stufe, sie hatte eigentlich einen Freund – Simon. Oli war eigentlich nur ihr bester Freund. Aber es war allgemein bekannt, dass Hannah mit Oli schlief, scheinbar jeder schien es zu wissen, außer Simon selbst. Oli wurde in dieser Hinsicht total von Hannah ausgenutzt, ihre Affäre dauerte nun schon fast ein Jahr an. Es schien langsam nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis Simon dahinter kommen würde, denn jeder wusste über diese Sache bescheid. Marie stellte sich vor, wie schrecklich es sein müsste, in Simons Haut zu stecken. Nein – egal was passieren würde, sie würde Lewi alles erzählen. Das war sie ihm auf jeden Fall schuldig. „Ich denke ich werds Lewi sagen.“, stellte Marie klar und Fabi nickte, ein kleines Lächeln stahl sich in sein Gesicht. Marie runzelte die Stirn. „Das heißt aber nicht, dass wir zusammen sind oder sonst was.“, sein Lächeln verschwand augenblicklich wieder. „Ich war gerade erst in einer Beziehung. Ich weiß außerdem nicht, ob ich mit dir zusammen sein will. Oder besser gesagt, was ich überhaupt für Gefühle für dich habe.“ Auch Fabi zog die Stirn in Falten. „Das ist okay für mich. Lass dir einfach Zeit. Aber Marie, du musst wissen, dass ich dich jetzt schon echt richtig, richtig gern habe.“, erklärte er ihr mit rauer Stimme. Maries Herz stand eine Sekunde still, nur um daraufhin dreimal so schnell zu schlagen, wie zuvor. Sie musste sich eingestehen, dass sie sich ziemlich sicher war, was für Gefühle sie für Fabi hatte. Aber sie liebte Lewi immer noch. Sie wollte sicher nicht direkt nachdem sie sich getrennt hatten, falls sie sich trennen würden, alles schlimmer machen, indem sie sich sofort in eine Beziehung mit Fabi stürzte. Ganz leise kündigte sich ein Pochen in Maries Kopf an, diese Art Pochen, von der man wusste, dass es sich zu der schlimmeren Sorte Kopfschmerzen entwickeln würde. Berlin war vielleicht vorbei, aber die Probleme hatte sie mit nach Hause gebracht. Je mehr sie sich ihrer Stadt näherten, desto größer schien der Berg an Schuldgefühlen und Angst zu werden. Marie wusste nicht, wie sie mit alldem umgehen sollte, sie fühlte sich so allein gelassen wie noch nie. „Wir müssen unbedingt nochmal was rauchen, bevor wir zu Hause ankommen.“, stellte sie entschlossen fest. ‚Anders halte ich das alles nicht aus‘, beendete sie den Satz in ihren Gedanken.

23 – Marie

Maries Herz rutschte ihr in die Hose. Wieso tat ihr das Schicksal so etwas an? Sie hatte sich gerade damit abgefunden, dass Lewi ein rücksichtsloses Arschloch war, nur um nun wieder daran erinnert zu werden, dass eigentlich sie den Arschloch-Part übernommen hatte. Sie war fremd gegangen! Sie stand hier und küsste Fabi, währendem Lewi zu Hause saß und sich den Kopf darüber zerbrach, wie er ihre Beziehung am Besten retten konnte. ‚Was antworte ich jetzt darauf?‘, fragte sie sich verzweifelt und ihre Augen begannen zu brennen. Sie schob Fabi unsanft von sich. „Gehen wir zurück, die wundern sich sicher schon, wo wir bleiben.“, sagte sie trocken und ohne ihn überhaupt richtig anzuschauen.
Lewi wollte sie auch noch abholen! Ihr wurde übel, als sie daran dachte, wie Lewi sie nach Hause bringen und wahrscheinlich erwarten würde, bei ihr schlafen zu können. Mit ihr schlafen zu können – nach einer Woche Trennung ja nicht so abwegig. Sie wusste nicht wieso, aber mit ihm zu schlafen war wirklich das aller letzte, was sie momentan wollte. Sie liebte ihn zwar noch immer, aber ihre Schuldgefühle begannen sie innerlich aufzufressen. Sie würde nicht bei ihm sein können, nicht die ganze Nacht, und so tun, als wäre nichts geschehen. Sie fühlte sich viel zu schlecht und er hatte es eigentlich gar nicht verdient. Nicht einmal nach dem ganzen Ärger, den sie wegen Victoria gehabt hatten.
‚Ich muss mit ihm Schluss machen‘, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf und ihr Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Geistesabwesend stellte sie sich zu Anna und zupfte an ihren Haaren. Sie nahm überhaupt nicht wahr, was um sie herum geschah, bis Anna plötzlich nach ihr rief. „Willst du da ewig rumstehen? Du weißt schon, dass der Zug nicht auf dich wartet, oder?“. Erschrocken fuhr sie zusammen und stellte fest, dass alle anderen bereits in den Zug gestiegen waren. Also beeilte sie sich hinterher zu kommen.
Endlich im Zug versuchte sie keuchend ihren viel zu schweren Koffer auf die Gepäckablage zu hieven. Aber der Koffer war einfach viel zu schwer. Gerade wollte sie aufgeben, da stieg ihr der vertraute Geruch von Fabis Parfum in die Nase. Sie konnte nicht verhindern, dass sich bei dem Geruch ihre Eingeweide wohlig zusammenzogen und alles in ihr zu kribbeln begann. Auch ihr Puls schoss sofort in die Höhe. Sie hasste sich dafür, dass sie ihn so gern hatte. „Komm ich helf dir“, bot Fabi ihr nun an. Hilfsbereit wie immer und als wäre ihr Koffer federleicht hob er ihn auf die Ablage. „Ich hab dir einen Platz frei gehalten.“, er deutete auf eine Sitzecke mit vier Plätzen. Zu ihrer Erleichterung stellte Marie fest, dass auch Anna dort Platz genommen hatte, neben Sebi. Aber wenigstens würde sie nicht mit Fabi allein sein müssen, das hielt sie in ihrem verwirrten Gemütszustand gerade nicht aus. Gegenüber ihrer Sitzecke war eine weitere, ebenfalls mit vier Plätzen. Chrissi, Nermin, Ina und Wolfram hatten es sich dort gemütlich gemacht. Eine Weile saßen sie alle schweigend nebeneinander, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Ina und Chrissi schliefen sehr bald ein, sie hatten die letzte Nacht ja auch komplett durchgefeiert. Auch Anna war mit ihrem Kopf auf Sebis Schulter gesunken, die Augen geschlossen. Marie jedoch war peinlich darauf bedacht, Fabi nicht zu berühren. Aber jedes Mal, wenn sie ein Stück von ihm weg rutschte, schien er automatisch zu folgen. Und sie wusste selbst, dass das Fabi gegenüber nicht fair war. Im einen Moment schlich sie sich mit ihm davon und im nächsten wollte sich ihm nicht zu nahe kommen? Das würde jeden Mann verwirren und Marie nahm es ihm nicht übel. Dennoch drehte sie sich von ihm weg und starrte gedankenversunken aus dem Fenster. Sie musste Lewi endlich eine Antwort auf seine Nachricht schreiben. Aber sie wusste beim besten Willen nicht, was sie machen sollte. Zögernd zog sie ihr Handy hervor und drehte es so, dass Fabi, selbst wenn er es darauf anlegen würde, nichts lesen könnte.

Hey 🙂
Ja, wir sollten echt reden…
okay ich sag meiner Mutter, dass
sie mich nicht abholen braucht.
Ich bin froh, dass du dich gemeldet
hast. :*

Zitternd tippte sie auf Senden. Kein ich liebe dich, kein Herz. Das kam ihr nur fair vor. Sie wusste zwar noch nicht, ob sie Schluss machen wollte, aber sie wollte ihm auch nicht das Gefühl geben, alles sei in Ordnung. Immerhin hatte sie auch eine Woche lang nichts vom ihm gehört. Als sie wieder aufschaute, bemerkte sie, dass Anna sie beobachtete. Marie zog fragend eine Augenbraue hoch und Anna deutete mit einer Kopfbewegung, leicht besorgt, wie es schien, auf Maries Handy. Diese schüttelte nur leicht den Kopf und formte mit dem Mund lautlos das Wort ’später‘. Anna nickte verständnisvoll und schloss erneut die Augen. Marie war so froh wie noch nie, dass Anna ihre Freundin war. Sie hatte das Gefühl, sie könne ihr alles erzählen, ohne Ausnahme und Anna würde sie nicht verurteilen. Marie wusste nicht, was zwischen ihr und Sebi gelaufen war, aber selbst wenn Anna nicht so weit gegangen war wie sie selbst, würde sie es dennoch verstehen können, da war sich Marie sicher. Sie würde ihr wenigstens einen ehrlichen Rat geben und ihr auch ziemlich sicher den Kopf abreißen, falls das nötig wäre.
„Wo müssen wir eigentlich aussteigen?“, fragte Nermin, an die von ihnen, die noch wach waren, gewannt. Aber als Antwort bekam er nur allgemeines Schulterzucken. Wolfram stand kurzerhand auf. „Ich geh mal die Lehrer suchen und frag nach.“, teilte er den anderen mit tiefer Stimme mit und verschwand. Er war länger weg als erwartet und als er wieder zurück kam, waren die meisten von ihnen bereits aufgewacht. Nur Ina schlummerte allem Anschein nach noch tief und fest. „Noch zwei Stunden ungefähr, aber sie meinten, sie sagen uns dann nochmal Bescheid.“, brachte Wolfram die auf den neusten Stand der Dinge. Dann setzte er sich hin und begann breit zu grinsen. „Ihr glaubt mir nicht, was für ein interessantes Gespräch ich gerade mit den Lehrern führen durfte.“, verkündete er enthusiastischer, als Marie es von ihm gewohnt war. Er erntete fragende Blicke und sein Grinsen wurde noch breiter. Marie war sich ziemlich sicher, dass sein Blick zwischen ihr und Fabi und Anna und Sebi hin und her glitt. „Jetzt sag schon!“, drängte Anna ungeduldig. „Die Lehrer haben irgendwie darüber geredet, wie so eine Stufenfahrt ja immer wieder die verschiedensten Leute zusammenbringt und wie toll sie das immer finden. Und dann meinten sie noch irgendwie so etwas, dass sich über so eine Woche ja auch interessanter Weise immer wieder neue Pärchen bilden.“, er machte eine künstlerisch betonte Pause, wohl wissend, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren. „Und als Beispiel haben sie euch genannt.“, er deutete in die Richtung ihn der Marie, Fabi, Sebi und Anna saßen. Maries Herz blieb für einen Moment stehen und sie wusste, dass es Anna gegenüber von ihr genauso gehen musste. Die beiden tauschten entsetzte Blicke. Dann räusperte sich Marie. „Das ist ja wirklich lustig. Also ich mein, wie die Lehrer immer denken, dass sie über alles Bescheid wissen. Wir, Anna und ich, wir haben einen Freund. Aber nicht hier im Zug, sondern zu Hause. Wie kommen die auf die Idee, wir wären mit denen zusammen? Wir sind nur Freunde. Mehr wäre absolut undenkbar.“. Nach dem sie geendet hatte nickte Anna zustimmend und Marie schaute besorgt zu Chrissi und Nermin, doch die beiden wirkten einigermaßen zufrieden mit ihrer Antwort auf die Spekulationen der Lehrern. Wolfram zuckte nur unbeteiligt die Schulter. „Hab ich mir auch gedacht.“, sagte er nur und damit war das Gespräch für ihn beendet. Er interessierte sich sowieso nicht wirklich für sie alle, das hatte er sich schon mehrmals anmerken lassen. Er war viel älter, schon 22 und nach einer abgeschlossenen Lehre nochmal zurück in die Schule gegangen, um sein Abitur nachzuholen. Aber Marie hatte das Gefühl, dass auch ihm die Woche in Berlin gefallen hatte. Er war zwar eher der Einzelgänger-Typ, aber trotzdem war er eigentlich jeden Abend mit dabei gewesen, wenn sie sich betrunken hatten. Und auch, wenn er nicht viel getrunken hatte, so waren sie doch das ein oder andere Mal in ein Gespräch gekommen. Auch wenn Wolfram sich das vielleicht nicht eingestehen würde, Marie glaubte, er mochte sie alle mehr, als er es ihnen zeigte. Wie angekündigt kamen die Lehrer zwei Stunden später zu ihnen und teilten ihnen mit, dass sie bei der nächsten Station aussteigen müssten. Also standen alle auf und holten ihr Gepäck von der Ablage. Marie plagte sich erneut damit ab, sie war einfach zu klein und kam nicht richtig an ihren Koffer heran, den Fabi zu allem Überfluss auch noch weiter nach hinten geschoben hatte. Doch diesmal kam er ihr nicht zur Hilfe. Er betrachtete sie nur ausdruckslos und nachdenklich, während sie verzweifelt auf und ab hüpfte um an den Koffer zu gelangen. „Komm, ich helf dir!“, bot Sebi endlich an und gab ihr den Koffer. Marie bemerkte, wie er sich danach zu Fabi umdrehte und ihm einen fragenden Blick zu warf, den Fabi aber geschickt ignorierte. Auf dem Bahnsteig suchte Marie nach Fabi, sie wollte noch eine mit ihm rauchen, bevor sie wieder in den nächsten Zug steigen mussten, aber sie konnte ihn nirgends entdecken. „Hast du Fabi gesehen?“, fragte dann auch Sebi, aber Marie schüttelte nur den Kopf. Sie machten sich auf die Suche nach ihm und fanden ihn zwischen Lena und ihren Freundinnen. Lena saß schon wieder auf Fabis Schoß! Marie traute ihren Augen nicht. Sie war sich bewusst, dass sie keine exklusive Beziehung führten und sie selbst ja auch in einer Beziehung steckte, aber ging das nicht ein bisschen zu weit? Entschlossen ging sie auf Fabi zu und bedeutete ihm ihr zu folgen. Ein wenig genervt stand er auf und sie stellten sich ein wenig abseits der Gruppe. „Was?“, fragte er und klang eindeutig genervt. „Dein ernst? Lena?“, Marie konnte die Wut und Enttäuschung in ihrer Stimme nicht unterdrücken. Fabi jedoch zuckte bloß mit den Schultern. „Das braucht dich doch nicht interessieren, oder? Ich meine das mit uns ist… wie hast du es noch gleich ausgedrückt? Achja genau! Ich glaube deine Worte waren ‚absolut undenkbar‘.“. Ohne ihr eine Gelegenheit zum Antworten zu geben, drehte er sich um und ging davon. Zurück zu Lena.

22 – Marie

Marie konnte nicht fassen, dass die Jungen doch tatsächlich so dämlich waren und es nicht schafften rechtzeitig zum Treffpunkt für die Abfahrt zu kommen. Waren sie wirklich so bekifft, dass sie nicht verstanden, was passieren würde, wenn sie den Zug verpassten? Sie hatten schließlich kein Ticket! Entschlossen zog sie ihr Handy heraus und tippte genervt eine SMS an Fabi.

Wo seid ihr denn?
Beeilt euch mal ein Bisschen.

Irgendwie ärgerte es sie auch, dass Fabi scheinbar gar nicht daran interessiert war, einen Platz neben ihr im Zug zu bekommen. Nach allem was in den letzten Tagen zwischen ihnen gelaufen war, hatte sie sich ein wenig mehr Aufmerksamkeit von ihm erhofft. Und nicht weniger schockiert war sie über die Tatsache, dass es die Lehrer überhaupt gar nicht interessierte, ob die Jungs da waren oder nicht. Das Vibrieren ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Eine Nachricht von Fabi:

Sind schon auf dem Weg.

Na wenigstens etwas, dachte Marie genervt und suchte die Gruppe nach Anna ab, um ihr die Neuigkeiten mitzuteilen. „Hast du schon was von den Jungs gehört?“, fragte diese dann auch sofort, als Marie neben ihr stand. „Ja, Fabi hat mir geschrieben, er meinte sie sind gleich da.“, antwortete sie und Anna fragte skeptisch: „Meinst du die finden den Weg?“. Marie musste lachen, aber dann dachte sie daran, wie vier bis aufs äußerste bekiffte Jungen eine U-Bahn Station finden, und dann auch noch in die richtige einsteigen sollten und stellte fest, dass es eigentlich eine berechtigte Sorge war. Anna schaute sie halb belustigt, halb besorgt an. Marie schüttelte den Kopf. „Du hast Recht, es is schon gut möglich, dass die das nicht packen. Wie wärs, lass denen mal entgegen fahren, oder? Wir haben noch ne halbe Stunde bis unsere Bahn fährt.“ „Okay, ich bin dabei. Is sicher besser so.“. Anna eilte sofort los und Marie hastete ihr schnell hinterher. Im Gehen rief sie Chrissi noch zu: „Wir gehen mal nach den Jungs suchen!“. Chrissi antwortete gar nicht auf ihre Auskunft, sondern runzelte nur die Stirn und zog skeptisch eine Augenbraue hoch. ‚Da ist wohl jemand mit dem falschen Fuß aufgestanden‘, dachte sich Marie beiläufig, maß der Reaktion aber sonst keine Bedeutung zu. Anna und Marie hatten Glück, sie mussten keine zwei Minuten auf die U-Bahn warten, die sie zurück zum Hostel bringen würde. Doch als sie dort angekommen waren, vibrierte Maries Handy erneut. Noch eine Nachricht von Fabi:

Wir sind da wo seid
ihr 😀 :*

Marie grinste in sich hinein, als sie den Kusssmiley sah. Fabi war zwar ihr bester Freund und sie hatte schon öfter Kusssmileys von ihm bekommen, aber sie hatte das Gefühl, dass der hier eine komplett andere Bedeutung hatte, als die früheren. Anna schien ihr Grinsen zu bemerken. „Was?“, fragte sie neugierig und streckte ihren Hals, um die Nachricht lesen zu können. Marie drehte ihr Handy beiläufig zu Seite. „Nichts“; sagte sie unschuldig grinsend und fügte dann hinzu: „Nur, dass die Jungs wohl schon am Bahnhof sind. Wir haben sie verpasst.“. Anna ließ ein genervtes Stöhnen hören. „Dann geht’s jetzt wohl wieder zurück?“, beschloss sie und Marie nickte zustimmend.
Als sie endlich wieder am Bahnhof angekommen waren, begrüßten sie die Jungs mit einem breiten Grinsen. „Da seid ihr ja! Und ich dachte, wir während spät dran gewesen.“, neckte Sebi sie und zu Maries Überraschung schlenderte er gezielt auf Anna zu und Umarmte sie zur Begrüßung. War zwischen den beiden etwa auch etwas gelaufen? Soweit Marie wusste, lief die Beziehung zwischen Anna und Maxi perfekt. Ihr fiel eigentlich keinen Grund ein, weshalb Anna etwas mit Sebi anfangen sollte. Ihre eigenen Gründe für das, was zwischen ihr und Fabi war, waren zwar auch nicht gerade die Besten, aber sie hatte immerhin die komplette Woche in Berlin kein Wort von Lewi gehört. Außerdem kannte sie Fabi wirklich gut und sie waren schon lange gut befreundet gewesen. Anna hatte ihr doch erzählt, sie habe Sebi bis vor Berlin gar nicht gekannt?! Aber naja, Marie würde sich jedenfalls nicht einmischen. Sie mochte Sebi und Anna würde schon wissen was sie tat.
Was Maxi jedoch anging, so hatte die vielleicht sogar das Gefühl, dass er sie gar nicht leiden konnte, also würde es für ihre Freundschaft mit Anna wahrscheinlich sogar einfacher sein, wenn sie etwas mit Sebi anfing. Aber wahrscheinlich interpretierte sie viel zu viel in diese Umarmung hinein.
Fabi stellte sich unauffällig neben sie und raunte ihr plötzlich ins Ohr: „Meinst du da läuft was?“. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf Anna und Sebi. Marie zuckte mit den Schultern. „Genau das hab ich mich auch gerade gefragt.“, stellte sie leise fest. Dann schaute sie zu ihm auf und er bedachte sie mit einem Blick, den sie noch nie zuvor an ihm gesehen hatte. Er lächelte sie an und schaute ihr dabei so tief in die Augen, dass es in Maries Bauch heftig zu kribbeln anfing. In den letzten zwei Tagen hatte sie so viel zwischen ihnen geändert! Den Küssen Donnerstagnacht waren mittlerweile noch zahlreiche weitere gefolgt.
Am Freitag Morgen hatten Marie unglaubliche Schuldgefühle geplagt. Sie hatte Angst gehabt, dass Lewi ihr genau an diesem Tag eine atemberaubende Entschuldigung schreiben würde, so als hätte er geahnt, was zwischen ihr und Fabi passiert war. Schuldbewusst bemerkte sie, dass sie fast erleichtert über das Ausbleiben einer solchen Entschuldigung war. Das machte sie Situation um einiges einfacher. Sie wusste zwar noch immer nicht genau, was sie mit Lewi und Fabi anfangen sollte, aber falls es soweit kommen würde, dass sie mit Lewi Schluss machen wollte, könnte sie den Streit immerhin als Grund nennen.

Gestern Mittag hatte die Gruppe ein wenig Freizeit bekommen und Marie und Fabi hatten sich unter einem belanglosen Vorwand von der Gruppe entfernen können. Als keiner von ihnen mehr in Sichtweise gewesen war, hatte Fabi Maries Hand gehalten und ihr ins Ohr geflüstert, wie wunderschön er die letzte Nacht gefunden hatte und wie gern er sie hatte. Maries Herz hatte unglaublich gerast. Sie hatte ganz vergessen gehabt, wie aufregend es sein konnte, frisch verliebt zu sein. Den ganzen Tag über hatten die beiden immer wieder Ausreden gefunden, ein Stück hinter den anderen zurück zu bleiben, um sich heimlich küssen zu können. Marie hatte durch die ganze Aufregung sogar vergessen, dass zu Hause Lewi auf sie wartete. Sie war so glücklich gewesen, wie sie seit Langem nicht mehr und konnte den Gedanken nicht ertragen, dass dieses Glück nun schon wieder ein Ende hatte.
„Du musst doch sicher nochmal aufs Klo, bevor wir los fahren, oder?“, raunte Fabi ihr kaum hörbar ins Ohr und sie sah, wie ein schelmisches Grinsen über sein Gesicht huschte. Kaum merklich nickte sie und teilte den anderen mit, sie würde noch einmal kurz nach einer Toilette suchen. Keine Minute später folgte ihr Fabi auch schon. Marie wartete hinter der Ecke, die zu den Toiletten führten und als Fabi an ihr vorbei lief zog sie ihn an sich. Es folgte ein leidenschaftlicher Kuss und alle Sorgen waren für einen Moment vergessen. Obwohl der erste Kuss zwischen ihnen nicht sonderlich gut gewesen war, waren die darauf folgenden umso besser gewesen. „Marie, was machst du nur mit mir?“, stöhnte Fabi leise an ihrem Ohr. Dies war wieder einer der Momente, in denen Marie nicht recht daran glauben konnte, dass Fabi, der unglaublich gut aussehende, große, starke Fabi, hier mit ihr stand, sie küsste, und sie scheinbar wirklich gern zu haben schien.
Plötzlich spürte sie, wie ihr Handy in ihrer Tasche vibrierte. Langsam schob sie Fabi von sich, sie brauchte nicht auf ihr Handy zu schauen, um zu wissen, von wem die Nachricht war. Das war mal wieder diese Sache mit dem Schicksal. Es erlaubte einem einfach nicht glücklich zu sein.

Schatz, du glaubst nicht wie unglaublich
Leid mir das alles tut! Das war die
schlimmste Woche in meinem Leben.
Ich weiß, ich hätte das mit Vic nicht machen
sollen. Egal, was ich jetzt schreib das reicht gar
nicht als Entschuldigung… ich hol dich heute Abend
am Bahnhof ab, okay? Dann können wir in Ruhe
reden.
Ich liebe dich ❤

19 – Anna

Nach einem hastigen Frühstück, das für Anna nur aus einem schnellen Kaffee bestanden hatte, waren sie auch schon in die nächste U-Bahn zum Hamburger Bahnhof gescheucht worden. Und so lief die schnatternde Schülerschar nun in Richtung des heute zu besichtigenden Museums. Anna war gerade tief in Gedanken versunken, als Chrissi zu ihr aufschloss und mit ernster Miene zu sprechen begann. „Ich will ja nix sagen, aber an deiner Stelle würde ich, was Sebi angeht, echt vorsichtig sein.“, versuchte sie Anna behutsam zu warnen. Doch diese musste nur grinsen. „Wieso denn vorsichtig?“, wollte sie nun amüsiert wissen. Denn, so bizarr sich Chrissis Warnung auch angehört hatte, so wusste Anna doch, dass sie sich für gewöhnlich aus dem Leben anderer heraushielt und nur dann einmischte, wenn sie es wirklich für nötig hielt. Chrissi schaute sie nun sehr eindringlich an – es musste ihr wirklich ernst sein – und begann dann zu erklären: „Naja, ich glaub, er hat es auf dich abgesehen. Also er will was von dir. Ich würde auf jeden Fall vorsichtig sein und nich mehr bei ihm schlafen oder sowas. Sonst denkt er noch, er hätte ne Chance.“. Das war alles? Anna war erleichtert. Sie hatte bereits vermutet, dass Sebi an ihr interessiert war, aber er wusste ja auch, dass sie einen Freund hatte. Und er hatte sich ja auch nicht daneben benommen oder sie zu etwas genötigt, das sie nicht hatte tun wollen „Chrissi, mach dir da mal keine Sorgen!“, versuchte Anna ihre Freundin zu beruhigen, „Sebi wird schon nichts tun. Er weiß, dass ich mit Maxi zusammen bin und das zwischen uns nur Freundschaft ist. Hätte er wirklich vorgehabt, mich ins Bett zu kriegen, hätte er das schon längst versucht. Ich mein, ich lag betrunken mit ihm im Bett.“. Chrissi schien nicht sonderlich überzeugt, doch sie kannte Anna gut genug, um zu wissen, wann sie verloren hatte. „Dann gib ihn immerhin keine weitere Chance und schlaf nich mehr mit ihm im Bett.“, startete sie noch einen letzten Versuch und Anna willigte ein. „Ja, das hab ich auch nich vor. Ich versprech dir, ich pass auf und sobald ich merke, dass er doch mehr als Freundschaft will, halt ich mich fern.“. Chrissi nickte widerwillig und Nermin stieß lachend zu ihnen. „Na, um was geht’s hier? Ihr seht so ernst aus!“, wollte er neugierig wissen und als keine der beiden antwortete, fügte er schelmisch grinsend hinzu: „Vielleicht darum, wieso Anna schon wieder bei Sebi geschlafen hat?“. Anna bemerkte sofort, wie sie rot wurde und Nermin erkannte, dass er ins Schwarze getroffen hatte. „Also?“, wollte er nun weiter wisse, „Wieso?“. Anna seufzte und gab sich geschlagen. „Ich hatte gar nich vor, bei ihm zu schlafen.“, begann sie abwehrend zu erklären, „Aber ich war müde und Marie auch, deswegen haben uns die Jungs angeboten in ihrem Zimmer zu warten, bis ihr mit feiern fertig seid.“. „Ach und du hast dir um vier, fünf oder sechs nicht denken können, dass wir auch irgendwann schlafen gehen wollen?“, neckte Nermin sie diabolisch grinsend. Doch Anna warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Ich hab vorgehabt einfach zu warten bis du und Olli wieder kommen, weil die andern dann sicher auch ins Bett gehen würden, aber ihr seid nie gekommen. Und weil Wolfram schon im Zimmer war und schlafen wollte, mussten wir das Licht auslassen. Wir haben einfach auf den Betten gesessen und geredet und sich dabei wohl eingeschlafen.“, erzählte sie ihren Freunden leicht genervt die Geschehnisse der letzten Nacht. „Jajaja.“, zog Nermin sie auf, doch Anna merkte, dass die beiden ihr glaubten und sie nun bloß ärgern wollten. Nachdem die drei eine Weile schweigend nebeneinander her gelaufen waren, fragte Chrissi plötzlich: „Sagmal, denkst du Maxi würde das was ausmachen, wenn er davon hört?“. Annas Magen zog sich bei dieser Frage schmerzhaft zusammen und Schuldgefühle überrollten sie. Die letzten Tage hatte sie diese blendend ignorieren können, doch nun machte sich Beklemmung in ihr breit. Die Frage war berechtigt. Klar vertraute ihr Maxi und er war generell nicht der Eifersüchtigste, wenn sie seine kleinen Eifersüchteleien mit dem verglich, was manch andere zu erzählen hatten, doch dies könnte auch für ihn ein Schritt zu weit gewesen sein. Sie bemerkte, wie sich langsam Sorge auf Nermin und Chrissis Gesichtern ausbreitete und riss sich zusammen. Sie durfte sich ihre Zweifel nicht anmerken lassen. Die beiden waren schließlich Maxis beste Freunde und wenn Nermin mitbekam, dass Maxi diese Sache ernsthaft verletzen könnte, würde er sich – da war Anna sich sicher – dazu verpflichtet fühlen, es ihm zu erzählen. So egoistisch es auch war, sie hatte eigentlich gehofft, es Maxi gegenüber nicht erwähnen zu müssen. Es war ja auch nichts passiert. „Achwas, wir vertrauen uns und es ist ja auch nichts zwischen Sebi und mir gelaufen. Maxi versteht es sicher, wenn ich es ihm erkläre!“, redete sie ihren Freunden nun mit überzeugter Stimme ein. Die beiden nickte und Chrissi bemerkte: „Ja, das denk ich auch. Aber wenn er es nich von dir erfährt, könnte er es vielleicht falsch verstehen und denken, da wär doch was gewesen zwischen euch.“. „Ja, deswegen sag ich es ihm auch sobald wir wieder zurück sind!“, erklärte Anna nun leicht irritiert. „Wieso sollte es jemand anders ihm erzählen?“, fügte sie dann fragend hinzu. „Naja…“, fing Chissi vorsichtig an, „Ich hab gehört, dass Sebi seinen Kumpels aus der Nordstadt geschrieben hat, dass er gestern morgen neben nem nackten Mädel aufgewacht is und keine Ahnung hatte, ob da was gelaufen is oder nich.“. Als Chrissi geendet hatte, warfen die beiden Anna einen vorsichtigen Blick zu und diese konnte nicht glauben, was sie da gerade gehört hatte. Wut machte sich in ihr breit und sie fragte fassungslos: „Was? Wenn er das wirklich getan hat, dann bring ich ihn um!“. Sie konnte es einfach nicht glauben! Es war rein gar nichts zwischen ihnen gelaufen und sie war auch definitiv nicht nackt gewesen. Sie würde ihn auf der Stelle zur Rede stellen und ihm klar machen, dass sie nichts mehr von ihm wissen wollte. Doch irgendwie konnte sie trotz ihrer überschäumenden Wut nicht ganz glauben, dass Sebi so etwas tatsächlich geschrieben haben sollte. Schließlich hätte ihm klar sein müssen, dass sie davon erfahren und wütend sein würde. Am liebsten wäre sie sofort zu hin hinüber gestürzt und hätte die Sache geklärt, doch wenn sie diesem Drang nun nachgehen und eine große Szene veranstalten würde – das war ihr klar – würden die Umstehenden nur denken, es sei tatsächlich etwas zwischen ihnen gelaufen und dies galt es um jeden Preis zu verhindern. Am See verbreiteten sich Gerüchte wie Lauffeuer und jeder schien sie sofort zu glauben. Also riss sie sich zusammen, erntete die mitleidigen Blicke ihrer beiden Freund und zückte ihr iPhone. „Ich klär das jetz!“, verkündete sie und suchte die Unterhaltung mit Sebi in Whats App. Gott sei Dank hatten sie an dem Abend, an dem es Marie so schlecht gegangen war, sicherheitshalber Nummern ausgetauscht. Sie bemerkte zwei neue Nachrichten. Eine war von Maxi, in der er ihr einen guten Morgen wünschte und fragte, was heute noch so auf dem Programm stand. Die andere war zu ihrer Überraschung von Sebi. Er hatte sie, laut der Zeitangabe, direkt nach dem Aufstehen geschrieben, doch Anna hatte, wegen dem Stress heute, noch nicht einmal aufs Handy geschaut. Alles okay? , war das Einzige das er geschrieben hatte. Wie ironisch, dachte sich Anna. Als hätte er gewusst, dass eben NICHT alles okay sei. Eilig schrieb sie zurück: Nein es ist nicht alles okay! Hast du rumerzählt, dass ich bei dir geschlafen hab und das anscheind auch noch nackt? Nachdem sie auf „Senden“ geklickt hatte, starrte sie einige Sekunden auf die Nachricht und wartete auf eine Antwort. Dann fiel ihr auf, dass sie diese wohl möglich nicht all zu bald bekommen würde und sie widmete sich der Antwort auf Maxis Nachricht. Nach einem kurzen „Guten Morgen“ erklärte sie ihm kurz, dass sie und Marie letzte Nacht bei dem Jungen auf dem Zimmer geschlafen hatten und er sich keine Sorgen machen solle, da Nermin auch mit dabei gewesen war und nicht passiert war. Mit hämmerndem Herzen stellte sie ihr Handy auf Vibration, um es sofort zu bemerken, wenn sie eine Antwort bekam und steckte es zurück in die Tasche ihrer Camouflagehose. Es dauerte nicht lange, da vibrierte es auch schon in besagter Tasche und Anna öffnete hastig die Nachricht. Die Antwort war von Sebi: Was? Nein hab ich nich wieso sollte ich auch das stimmt ja nich Anna seufzte leise und steckte das Handy zurück. Es klang zwar aufrichtig, aber sie wusste nicht recht, ob sie ihm glauben sollte. Wie sonst hätte es dieses Gerücht geben können? Außerdem kannte sie Sebi gerade einmal fünf Tage und wusste so gut wie nichts über ihn. „Sebi meint, er hat das nich geschrieben.“, hielt sie Chrissi und Nermin, die sie neugierig beobachtet hatten, auf dem Laufenden. Beide schienen nicht überzeugt und so setzte sie hinzu: „Ich red nachher mal persönlich mit ihm, vielleicht lässt sich das klären.“. Wenig später im zu einem Museum umfunktionierten, alten Hamburger Bahnhof kam Sebi auf Anna zu und die beiden entfernten sich ein wenig von der restlichen Gruppe, die gelangweilt darauf wartete, dass die Führung begann. „Hey, ich hab das echt nich geschrieben!“, beteuerte Sebi mit ernster Miene und wirklich leicht genervt. Anna warf ihm nun ebenfalls einen genervten Blick zu und erwiderte: „Ja keine Ahnung, Nermin und Chrissi meinen, das erzählen die Nordstädtler rum und alle fragen, wer das Mädel war. Woher sollen sies denn sonst wissen?“. Sebi zuckte ahnungslos die Schultern. „Ich wars auf jeden Fall nich. Ich hab vielleicht einmal aus Spaß in die Gruppe geschrieben, dass ich nich allein aufgewacht bin, aber weder Namen, noch dass es ernst war oder, dass du nackt warst und vielleicht was gelaufen is.“, erklärte Sebi aufrichtig und schien ebenfalls wütend über die Entwicklung der Situation zu sein. „Ich weiß doch, dass du n Freund hast und dich das aufregen würde.“, setzte er nach einem kurzen Schweigen leicht verzweifelt hinzu. „Ja, ich glaub dir ja. Kann gut sein, dass sie die ganze Geschichte ausgeschmückt haben. Aber bitte stell klar dass das nicht stimmt und erzähl auch keinem mehr davon, okay?“, verlangte Anna mit eindringlicher Stimme und Sebis ernster Miene nach zu urteilen, schien er es verstanden zu haben. „Ja klar, mach ich.“, versprach er schließlich und die beiden kehrten gerade rechtzeitig zur Gruppe zurück, denn die Führerin war soeben aufgekreuzt und wollte mit dem Rundgang beginnen.

6 – Marie

Als sie sich nach dem Pizzaessen auf den Weg zurück Richtung Hostel machten, war Marie schon ziemlich betrunken. Oli hatte eine Flasche Wodka mitgenommen, den die beiden innerhalb einer Stunde komplett geleert hatten. Jetzt liefen sie Arm in Arm die Straße entlang und sangen schrill irgendwelche Schlager vor sich hin. Marie war zum ersten Mal an diesem Tag wirklich glücklich. Alkohol war eben doch die Lösung aller Probleme. Zum Glück waren die Lehrer nicht mehr bei ihnen. Die Schüler hatten jetzt offiziell Freizeit und Marie war mit den Jungs, die sie aus dem Rauchereck kannte, Chrissi, Ina und Anna auf der Suche nach der nächst gelegenen U-Bahnstation.
Als eine dicke Frau in einem knall türkisen Jogginganzug an ihnen vorbei lief, boxte Marie Anna, ohne groß darüber nachzudenken, gegen die Schulter und schrie „Augenkrebs!“. Das war früher einmal eine Tradition zwischen den beiden Mädchen gewesen. Immer, wenn eine von ihnen jemanden gesehen hatte, der sich unmöglich kleidete oder schlichtweg hässlich war, musste sie den Andere boxen und laut „Augenkrebs“ rufen.
Doch noch während sie ihre Faust wieder zurück zog, bereute sie es auch schon. Schließlich hatten sie das seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht und Marie war sich nicht sicher, wie Anna zu ihr stand. Zu ihrer Erleichterung fing diese an lauthals zu lachen. Das Eis war gebrochen.
Die Frau im Jogginganzug drehte sich abrupt um und bedachte sie mit einem vernichtenden Blick. Das führte jedoch nur dazu, dass die beiden noch mehr lachen mussten.
„Weist du, Anna“, sagte Marie, als sie sich wieder ein Wenig beruhigt hatten, „das hab ich wirklich vermisst!“
Anna zögerte kurz, dann nickte sie. „Ich auch“.
Ohne es zu bemerken, waren sie ein gutes Stück hinter der Gruppe zurückgefallen.
„Weist du eigentlich, wie verdammt Leid mir das alles tut?“, wenn Marie betrunken war, konnte sie schnell mal etwas sentimental werden. Außerdem hatte der Alkohol ihr gerade genug Mut gemacht, die längst überfälligen Worte endlich auszusprechen. Doch das Thema und Annas mögliche Reaktion machten sie trotzdem nervös. Anna blieb stehen und schaute sie prüfend an. „Naja… ehrlich gesagt, nicht wirklich. Ich habs mir vielleicht gedacht, aber du hättest halt schon mal was sagen können.“. „Ich weiß“, stöhnte Marie und Reue stieg in ihr hoch. „Ich hab mich einfach nie getraut. Du hast ja keine Ahnung, wie schlecht ich mich deswegen immer noch fühle… Ich mein, du warst meine beste Freundin. Ihr alle… ihr alle wart meine besten Freundinnen! Ich hab immer gedacht, ihr habt eine bessere Freundin als mich verdient… Ihr seid so oft auf mich zu gekommen und habt gefragt was los ist. Und ich hab euch immer abgewiesen. Bin nie drauf eingegangen… Ich war einfach so dumm, weißt du? So ein richtiges Arschloch. Wer tut seinen Freunden sowas an? Ich mein, nicht mal den Mund aufkriegen für eine Entschuldigung. Das ist schon hart? Kannst du mir verzeihen?“, ihre Stimme versagte. Sie musste einmal tief Luft holen, damit ihr nicht die Tränen kamen. „Ich hab mich einfach so geschämt“, flüsterte sie und schaute zu Boden. „Ich dachte, ihr hasst mich. Und dazu hättet ihr ja auch alles Recht der Welt.“
Eine einsame Träne rollte ihr über die Wange. Irgendwie brach gerade alles über ihr zusammen. Die Reue für die Fehler aus der Vergangenheit, ihre Sorge wegen Lewi und Victoria und irgendwie auch eine Art schlechtes Gewissen wegen Fabi.
Sie drehte sich weg, um die Träne aus dem Gesicht zu wischen. Doch die Geste entging Anna nicht. „Heeey“, sagte sie beschwichtigend. „Soo schlimm ist das doch gar nicht. Das ist doch alles schon ewig her… fast 3 Jahre jetzt… Und ja, vielleicht waren wir damals verletzt und auch sauer, aber das Leben geht doch weiter… oder nicht?“ Marie schüttelte den Kopf. „ Es war nie mehr wie früher. Ich hatte echt immer das Gefühl, euch etwas schuldig zu sein. Und egal was ich gemacht hätte, das Gefühl wäre eh nicht weggegangen.“. „Aber das stimmt doch so überhaupt nicht. Das Ganze, was du eben gesagt hast… das hätte echt gereicht! Wir machen doch alle mal Fehler. Dafür sind wir doch Freunde… Und ganz ehrlich? Eigentlich hab ich immer Moritz die Schuld für das Alles gegeben.“. Daraufhin grinste sie: „Du kannst sagen was du willst, aber ich hasse diesen Typen einfach.“. „Aber hallo!“, bekräftigte Marie sie und die nächsten zehn Minuten ließen sie sich leidenschaftlich über Moritz aus. „Und weist du, was das schlimmste war?“ setzte Marie, die jetzt wieder bester Laune war, erneut an, „er hatte einen ganz kleinen…“ Sie schaute Anna verschwörerisch in die Augen. „Nein!?“, Anna prustete los „Und trotzdem warst du so lange mit ihm zusammen?“. „Ja schon, fast zwei Jahre“, Marie nickte. „Aber weist du, damals hatte ich eben keinen Vergleich. Woher sollte ich denn wissen, dass er klein ist.“ Sie lachte, aber Anna schien das irgendwie nachdenklich zu stimmen. Sie wechselte schnell das Thema, um die gute Laune aufrecht zu erhalten. „Sagmal, die da vorne haben echt auch überhaupt kein Plan wo sie lang müssen oder? Ich bin mir sicher, dass wir vorher nicht so lange laufen mussten“. Anna grinste wieder. „Ja man, die sind wahrscheinlich so breit, dass sie nich mal mehr wissen wo vorne und hinten ist“. „Haha, ja schon“, pflichtete Marie ihr bei.
Sie liefen eine Weile schweigend nebeneinander her. Schließlich ergriff Anna vorsichtig das Wort: „Du bist doch noch mit Lewi zusammen, oder?“. „Ja, schon…“ sagte Marie leicht verwirrt über diese Frage. Sie hatte angenommen, Anna wüsste das.
„Wieso fragst du?“, wollte sie wissen.
„Mh… nur so“, wich Anna ihrer Frage aus.
Wieder Schweigen. „Also… du musst jetzt nicht antworten, wenn du nicht willst, aber… naja, läuft da was zwischen dir und Fabi?“, platzte Anna plötzlich einfach raus. Überrascht blieb Marie stehen. „Dein Ernst?“, fragte sie mit einem leicht wütenden Unterton.“ Hast du das von Lewi?“.
Sie konnte nicht glauben, dass Lewi nun alle möglichen Leute darauf ansetzte, sie zu Überwachen.
„Hä? Nein. Wieso?“, Anna schien sichtlich verwirrt über die Frage zu sein. „Keine Ahnung er sagt das immer…“, murmelte Marie schuldbewusst, wegen ihrem unbegründeten Zorn und zuckte mit den Schultern. „Also?“, wollte Anna wissen. Marie hatte ganz vergessen, wie beharrlich Anna sein konnte, wenn sie etwas unbedingt wissen wollte.
„Also nein, da läuft nichts“, stellte Marie klar. „Sorry, ich dachte nur…“, setzte Anna zu einer Erklärung an. „Ach keine Ahnung, ich hab euch halt vorhin im Zug gesehen. Ihr habt schon irgendwie ziemlich vertraut ausgesehen, wenn du verstehst was ich meine.“, schloss sie. Ein kleines Lächeln schlich sich auf Maries Gesicht. „Ne, da ist wirklich nichts. Ich hab einfach oft Stress mit Lewi und Fabi ist einfach immer für mich da. Also wirklich immer. Ihm macht’s nie was aus, wenn ich Nachts mal anrufe und reden will, weil wieder irgendwas ist. Noch nie hat er gesagt, ne sorry keine Zeit oder sowas. Das ist mir halt einfach echt viel Wert… und andersrum, denk ich mal, genauso. Außerdem hatte er auch bis vor ner Woche noch ne Freundin. Wir sind einfach nur richtig gute Freunde.“, beendete Marie ihre Erklärung, gerade rechtzeitig. Sie hatten endlich eine U-Bahn Station gefunden und die anderen warteten schon auf sie.